Beispiel aus der Beratung
Bei einem Beratungsgespräch, in dem es vor allem darum geht, wie die Eltern ihren 12-Jährigen bei seinen Rechtschreib- und Matheschwierigkeiten unterstützen könnten, erkläre ich anhand des Verhaltensfensters die Frage des sogenannten Problembesitzes. Im Gordon-Konzept ist diese Unterscheidung so wichtig, weil davon abhängt, wie ich rede. Besitzt der andere das Problem, höre ich aktiv zu und vermeide die 12 Kommunikationssperren, um ihn zugewandt bei der Lösung seines Problems zu begleiten.
Besitze ich selbst das Problem, ist das Mittel der Wahl die Ich-Botschaft (nicht die beschuldigende Du-Botschaft). Ich gebe mir Mühe, dass der andere möglichst genau versteht, worin mein Problem besteht, nenne wenn nötig die negativen Folgen für mich und meine Gefühle dabei. Ich vertraue darauf, dass der andere mir helfen wird, mein Problem zu lösen, wenn ich mich ‚passend‘ ausdrücke und unsere Beziehung tragfähig ist.
Das funktioniert meiner Erfahrung nach, wenn ich auf Kommunikationssperren verzichte und dem anderen die Wahl lasse, mir entgegenzukommen.
Ein Beispiel für Problembesitz
Mit einem Beispiel versuche ich der Mutter den Problembesitz zu erklären:
Sie wollen in Ruhe telefonieren und Ihr Kind redet auch, zupft Sie am Hosenbein, lässt Ihnen keine Ruhe mit seinem eigenen Anliegen. Das stört und behindert Sie sehr.
Sofort sagt sie, das genau sei vor allem mit ihrem 7-Jährigen der Fall. Er würde ihr beim Telefonieren keine Ruhe lassen. Er würde sie ansprechen, ihr auf den Po hauen, ihr an die Brust fassen. Nichts von dem, was sie bisher versucht habe, hätte funktioniert, um dieses für sie ärgerliche Verhalten zu beeinflussen.
Vermutlich versucht die Mutter dem unerwünschten Verhalten zu begegnen, indem sie ähnliche Aussagen wie die Folgenden wählt:
- „Hör auf damit.“ (Anweisung)
- „Ich hab dir schon gesagt, du sollst das lassen.“ (rückblickender Vorwurf)
- „Immer nervst du mich.“ (Du-Botschaft)
- „Jetzt lass mich doch endlich mal in Ruhe!“ (ungeduldige Anweisung)
- „Wenn du nicht aufhörst, lese ich dir nachher keine Geschichte vor.“ (Drohung)
Da die Mutter immer wieder das gleiche Problem hat, heißt das für mich, dass sie mit dem, was sie dem Jungen mitteilt, nicht zu ihm durchdringt. Mit jeder weiteren Situation dieser Art wird sie ärgerlicher und verzweifelter.
Der Junge wird vermutlich merken, dass seine Mutter ihm nicht mehr wohl gesonnen ist, wenn sie sich so über ihn aufregt, führt sein Verhalten aber trotzdem fort.
Wozu Anweisungen und Du-Botschaften führen
Anweisungen und ungeduldige Du-Botschaften führen meiner Erfahrung nach erst recht zu Provokation und weiterem Machtkampf. Vermutlich empfindet der Junge das sich wiederholende Szenario auch wie ein Spiel, mit dem er seine Mutter (ohne, dass er ein ‚böser‘ Junge wäre) aus der Reserve locken kann und ihre (wenn auch negative) Aufmerksamkeit bekommt.
Die Mutter fühlt sich als Verliererin und der Junge praktiziert erfolgreich Methode 2. Das heißt, er setzt sich mit seinen Wünschen durch und tut das in diesem Falle auf Kosten seiner Mutter. Diese fühlt sich schon recht resigniert und glaubt, es gäbe kein Mittel, diesem Verhalten zu begegnen. Aus ihrer Sicht hat sie schon alles versucht und der Sohn gehorcht ihr einfach nicht.
Aus meiner Sicht verhält sie sich (ungewollt) permissiv, wenn sie sich nicht für sich und ihre Bedürfnisse erfolgreich einsetzt und sich deutlich positioniert. Und ihr Sohn lernt für alle Beteiligten unzuträgliche Verhaltensweisen. Sie lässt Dinge geschehen, die sie ganz unannehmbar findet und der Junge lernt keine Empathie sondern bleibt bei seinen auf sich bezogenen Verhalten. Da sie für ihn zuständig ist und weiter für ihn sorgen wird, ist ihr Ärger nicht nachhaltig. Nach einer Weile geht sie zur Tagesordnung über, auch wenn sie sich in diesen für sie unannehmbaren Situationen sehr über ihn ärgert. Ich glaube, so etwas macht Menschen auf die Dauer krank.
Wie könnte die Mutter das Problem anders angehen?
1. Der schwierigen Situation vorbeugen
2. In der Situation anders reden
Der schwierigen Situation vorbeugen
Bevor sie plant zu telefonieren, könnte die Mutter mit dem Jungen das Gespräch suchen.
„Ich möchte gleich telefonieren und hätte gerne vorher von dir gewusst, ob du noch etwas von mir brauchst oder wissen willst, damit ich dann in Ruhe sprechen kann, ohne von jemandem unterbrochen zu werden.“
In der Situation anders reden
Spricht sie gerade am Telefon und der Junge kommt und will etwas von ihr, berührt sie ihn leicht am Arm oder an der Schulter, schaut ihn dabei an und sagt: „Du willst etwas von mir (Aktiv Zuhören) und ich bin gerade im Gespräch und möchte das erst zu Ende führen (Ich-Botschaft).
Sie sagt nicht: „Gleich bin ich für dich da.“ „Warte mal einen Moment!“ Sie kündigt nichts an und kompensiert ihr ’nein‘ nicht mit einer Versprechung. Sie versucht nicht, den Sohn zu überreden, dass er sich geduldet. Sie hört ihm erst zu und nennt dann klar ihr Bedürfnis. Sollte er sie trotzdem nicht in Ruhe lassen und die ‚eingeübten‘ Verhaltensweisen zeigen (auf den Po schlagen) schaut sie ihn ernsthaft an und sagt ohne zu drohen: „Du findest das lustig und ich überhaupt nicht!“ (Aktiv Zuhören und Umschalten auf Ich-Botschaft).
Wenn Menschen klar sagen, was sie wollen
Wenn Menschen klar sagen, was sie wollen und warum, und darauf verzichten, anderen aufzutragen, was sie tun sollen, hat der andere die Wahl, sein Verhalten freiwillig zu ändern.
Gebe ich eine Anweisung („Hör damit auf!“) gibt es nur zwei Möglichkeiten: Der andere gehorcht oder er gehorcht nicht. Gehorcht er, ist alles gut. Gehorcht er nicht, wird es sofort schwierig, denn das Nicht-Gehorchen und das Weiterführen des unerwünschten Verhaltens werden als Provokation empfunden. Wenn das Verhalten dann weitergeht, bedeutet das einen Gesichtsverlust für denjenigen, der denkt, er kann andere durch Anweisungen zum Gehorchen bringen.
Der 7-Jährige in meinem Beispiel hat verstanden, dass seine Mutter ihn nicht zu dem von ihr gewünschten Verhalten zwingen kann. Ihren Anweisungen kommt er nicht nach, sondern übt Macht über sie aus, indem er Dinge tut, von denen er weiß, dass seiner Mutter das nicht gefällt. Der einzige Weg aus dieser Sackgasse ist aus meiner Sicht, dass die Mutter aufhört, Macht auszuüben, klar bei sich bleibt, ihre Bedürfnisse nennt und ihrem Sohn die Wahl lässt.
Ich glaube, Kinder sind nicht böse, auch wenn ihr Verhalten für Erwachsene Anlass zu großem Ärger sein kann. Sie tun das, womit sie erfolgreich sind, weiter. Es ist an den Erwachsenen, dem authentisch zu begegnen und sich klar damit zu positionieren, was sie wollen.
Fast täglich lerne ich bei meinen Spielterminen Kinder aller Altersstufen kennen, die empathisch reagieren und gewünschtes Verhalten zeigen, wenn sie die Wahl haben, vernünftige Erklärungen bekommen und keine Anweisungen hören.
Interessierte Nachfrage:
Diese Situation hat wohl jede*r schon mal miterlebt (mich eingeschlossen und wenn ich daran nur denke, steigt schon mein Stresslevel). Die einzige Frage, die ich mir noch gestellt habe ist: Und was, wenn das Kind doch nicht aufhört nach den Ich-Botschaften? Das ist ja die Erfahrung, dass man alles tausend Mal sagt – und es passiert doch nix.
Antwort Bettina Zydatiß
Dass Menschen x Mal dasselbe sagen und ihr Anliegen auf taube Ohren stößt, liegt meiner Ansicht nach daran, dass in (empörten, ungeduldigen, drohenden, entnervten, beschuldigenden) Anweisungen gesprochen wird. Derjenige, der befielt, erwartet Gehorsam und lädt dadurch gleichzeitig zu Widerstand und Provokation ein.
Menschen, kleine wie große, reagieren meiner Erfahrung nach widerwillig auf Anweisungen. Sie sind bereit zu Kooperation, wenn sie die Wahl haben.
Deswegen ist aus meiner Sicht die andere Ansprache und die dazugehörige Haltung so wichtig. Kinder sind nicht böse, sondern brauchen glaubwürdige Erklärungen, damit sie Empathie entwickeln können.